Emmanuel Ringelblum (1900 – 1944) wurde in Buczacz (Butschatsch) geboren. Er war Historiker und Pädagoge und gesellschaftlich engagiert .
Ringelblum studierte an der Universität Warschau, wo er auch promovierte. Er arbeitete mit dem Jidiszer Wisenszaftlercher Institut (YIVO) in Vilnius (Wilna) zusammen. Als Parteifunktionär der linken Poale Zion organisierte er das jüdische Schulwesen und arbeitete für die Centrale Jidisze Szul Organizacje (Zentrale Jüdische Schulorganisation). Er lehrte an hebräischen Gymnasien und engagierte sich in jüdischen Studentenorganisationen. Daneben arbeitete Ringelblum für die Zentrale der Zinsfreien Darlehnskassen („Centrala Kas Bezprocentowych“, Cekabe) und war Redakteur von „Folkshilf“, der Zeitschrift jener Institution. Er war außerdem 1923 Mitbegründer des Kreises der jüdischen Historiker in Warszawa (Warschau). In der Gruppe, die später ihre Tätigkeit im Rahmen des Jidiszer Wisenszaftlercher Institut fortsetzte, waren unabhängige Historiker und Studenten verschiedener Disziplinen der Geisteswissenschaft vertreten. Der Kreis gab eine unregelmäßig erscheinende wissenschaftliche Zeitschrift heraus, an deren Redaktion Ringelblum beteiligt war.
Sein wissenschaftliches Interesse war breit, Ringelblum konzentrierte sich jedoch auf die Geschichte der polnischen Juden und das Verhältnis zwischen Juden und Polen. Er schrieb u. a. die Bücher „Żydzi w Warszawie od czasów najdawniejszych do ich wygnania w 1527“ („Die Juden in Warschau von den Anfängen bis zum Jahr 1527“, 1932) und „Żydzi w Powstaniu Kościuszkowskim“ („Juden im Kościuszko-Aufstand“, 1938). In seinen Werken veranschaulichte er die Komplexität der polnischen Geschichte und jene Faktoren, die bei Juden und Polen gegenseitige Sympathie, aber auch Abneigung auslösten. Seiner wissenschaftlichen Leidenschaft blieb er bis zu seinem Lebensende treu.
Während des Zweiten Weltkrieges war Ringelblum im Warschauer Ghetto eingeschlossen und in der Untergrundbewegung aktiv. Er organisierte die gemeinschaftliche jüdische Selbsthilfe und schuf ein Untergrundghettoarchiv, das Ringelblum-Archiv genannt wurde und das das Leben, den Kampf und den Tod des jüdischen Volkes unter der deutschen Besatzung dokumentierte. Das Archiv war als ein Dokumentationszentrum gedacht, als ein Sammelort für Material unterschiedlicher Herkunft. Die dort gesammelten Dokumente, Tagebücher, historische, ökonomische und literarische Arbeiten, Graphiken und Bilder sind eine wertvolle Quelle für das Leben im Warschauer Ghetto, sowohl für die lebhaften kulturellen und gesellschaftlichen Aktivitäten als auch für das Martyrium des jüdischen Volkes. Auch Ringelblums eigene Notizen und Essays sind erhalten geblieben, sie umfassen die Zeitspanne von November 1939 bis zu seiner Deportation im April 1943.
Ringelblum bereitete für die Untergrundbewegung Berichte über die Lage der jüdischen Bevölkerung vor. Sie wurden den Alliierten übergeben, um die freie Welt zu alarmieren. Außerdem gehörte Ringelblum zum engsten Kreis der Verschwörer, die einen bewaffneten Angriff im Warschauer Ghetto vorbereiteten. Nach der großen Deportationswelle im Sommer 1942 arbeitete Ringelblum offiziell in der Schreinerei in der Nowolipkistr. 68. Im Keller des Hauses wurden, in Milchkannen versteckt, Teile des Archivmaterials vergraben. Ende Februar 1943 gelang es Ringelblum, zusammen mit seiner Frau Judyta und seinem Sohn Uri das Ghetto zu verlassen und sich in einem speziell zu diesem Zweck von Władysław Marczak errichteten unterirdischen Bunker in der Grójeckastr. 84 zu verstecken. Am Vortag des Aufstandes kehrte Ringelblum jedoch ins Ghetto zurück und wurde ins Zwangsarbeitslager in Trawniki deportiert. In einer gemeinsamen Aktion der polnischen und jüdischen Untergrundbewegung und mithilfe des Eisenbahners Teodor Pajewski, einem Meldegänger des Rats für die Unterstützung der Juden (Żegota), und der Jüdin Róża Kossower gelang es, ihn aus dem Lager zu befreien. Als Eisenbahner verkleidet, kehrte Ringelblum nach Warszawa (Warschau) zurück. Einige Zeit versteckte er sich in einer Wohnung in der Radzymińskastr. 2. Danach lebte er bis zum 7. März 1944 im Bunker in der Grójeckastr. 84 - bis zu dessen Entdeckung. Alle Personen, die sich dort versteckt hielten, wurden ins Pawiak-Gefängnis gebracht und erschossen.
Die wichtigste Quelle über die Situation im Ghetto, über Anzeichen des Antisemitismus und der Dummheit, über die paralysierende Angst und den Mut sowie über den Bunker in der Grójeckastr. sind Ringelblums eigene Worte in den nach dem Krieg gedruckten Büchern „Kronika getta warszawskiego“ („Die Chronik des Aufstandes im Warschauer Ghetto“, 1988) und „Stosunki polsko-żydowskie w czasie drugiej wojny światowej. Uwagi i spostrzeżenia, opracował oraz wstępem poprzedził“ („Die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs“, 1988). Es ist empfehlenswert, sie zu lesen, da sie Alltagsperspektiven dieser unmenschlichen Zeit zeigen. Ringelblum präsentiert mit der Sachlichkeit des Historikers alle Details des Lebens, ohne überflüssige Rührseligkeit, aber mit dem vollen Bewusstsein, in der Hölle zu leben, die dieser Generation zuteil wurde. Sein Versteck im Bunker beschrieb er so:
„Als die Deportation der Juden aus Warschau und damit die Suche nach einer Zuflucht auf der arischen Seite der Stadt begann, wandte sich eine Gruppe an die Familie M., mit der Bitte, einen Bunker zu errichten. (…) Herr und Frau M. haben selbstlos eine arme jüdische Schneiderin bei sich aufgenommen und sie wie ihr eigenes Kind behandelt. Man vermutete deswegen, dass die Familie M. höchst moralisch war, sodass man ihnen das Leben von einigen Dutzend Personen anvertrauen kann. (…) Den Bunker leitete Herr Władysław M., 37 Jahre alt, Gärtner von Beruf. Er rettete Dutzende von Juden – den Besatzern zum Trotz, die sie zum Tode verurteilt hatten. Herr M. ist mit ganzem Herzen und ganzer Seele seiner Geliebten, Frau Krysia, gewidmet [so wurde der Bunker genannt, in Anlehnung an ‚kryjówka‘, deutsch: Versteck]. (…) Und das sind andere Sorgen: Wie kann man einige Dutzend Menschen mit Lebensmitteln versorgen, ohne dabei auf sich aufmerksam zu machen? Auch damit kamen der einfallsreiche Herr M. und seine weniger tüchtige Schwester zurecht. Sie mieteten ein Lebensmittelgeschäft, auf dessen Rechnung man für Krysia einkauft. Für Krysia musste Herr M. gesellschaftliche und geschäftliche Kontakte abbrechen. Er kann nicht zulassen, dass zu viele Gäste oder Kunden in den Garten kommen, weil jeder Gast etwas Unnötiges beobachten kann, etwas, das er in seinem perfekt ausgearbeiteten Bunkerplan nicht voraussehen konnte. (…) Frau M. ist das Herz von Krysia und Herr M. das Gehirn; Mariusz, der Enkel von Frau M., ist die Augen, der Schutzengel von Krysia, ihr unzertrennlicher Begleiter. Seine Aufgabe ist sehr einfach, aber von ihr hängt das Leben von 34 Menschen ab. Mariusz bringt die Lebensmittel für Krysia, trägt die Eimer hinaus, aber was am wichtigsten ist: Er passt den lieben langen Tag auf, damit kein Fremder sich dem Bunker nähert. Er muss ständig beobachten, damit von den benachbarten Hausdächern niemand die Mieter von Krysia sieht. Er muss praktische Probleme lösen, wie z. B. einen Platz für den Müll, das Abwaschwasser und die Fäkalien finden. Alltägliche, aber sehr wichtige Angelegenheiten für 34 lebende Menschen. (…). Als im April das Ghetto brannte, als die zeitgenössischen Neros lebende Fackeln ansteckten, als die roten Plakate von allen Mauern schrien: ‚Polen! Wehe jedem, der Juden versteckt! Wir machen mit euch dasselbe wie mit den Juden!‘, herrschte in Krysia tiefe Verzweiflung. (…) Während unruhigere Geister vor den deutschen Drohungen zurückgeschreckt wären, den Juden verweigert hätten, weiter im Versteck zu wohnen, und sie damit dem sicheren Tod überlassen hätten, blieb die Familie M. bei ihrem Entschluss, die Juden zu retten.“
(Stosunki polsko-żydowskie w czasie drugiej wojny światowej. Uwagi i spostrzeżenia, opracował oraz wstępem poprzedził (Die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs), Bemerkungen und Einleitung von Artur Eisenbach, Warszawa (Warschau), 1988, S. 159-164. Das Buch liegt leider nicht auf Deutsch vor, aber in einer englischen Übersetzung (Polish-Jewish Relations During the Second World War, Evanston, 1992).
* Familie M.:Familie Marczak
Die von Ringelblum gesammelten Archivdokumente wurden nach dem Krieg gefunden und im Jüdischen Historischen Institut deponiert. Sie gelten als beste Dokumentation des jüdischen Schicksals in Ghettos im besetzten Polen und in einigen Konzentrationslagern.
Anna Maria Szczepan Wojnarska