Aufstand im Warschauer Ghetto - heldenhafter Widerstandskampf jüdischer Kampfverbände des Warschauer Ghettos gegen die Deutschen vom 19. April 1943 bis zum 15. Mai 1943. Es war der größte Akt des Widerstands der Juden während des Zweiten Weltkrieges.
Nach der großen Umsiedlungsaktion im Warschauer Ghetto blieben laut den Notizen von Ludwig Fischer rund 35 Tsd. Juden zurück. Im August 1942 wurde das sog. Kleine Ghetto liquidiert. Im Ghetto blieben all jene, denen es gelang, vor der Deportation zu flüchten. Es waren vorwiegend junge und einsame Menschen, die ihre Familien verloren hatten und die oftmals mit der Mitgliedschaft in einer Organisation die Leere nach dem Verlust ihrer Liebsten füllen wollten. Die Mehrheit der Einwohner verspürte nur noch Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit. Ein Teil der Menschen kannten die wahre Bedeutung des Euphemismus „Umsiedlungsaktion in den Osten“, wenngleich ihnen nicht alle Glauben schenkten. Die Deutschen führten eine Polizeistunde ein. Das einzige Tor zum Ghetto befand sich an der Kreuzung zwischen der Gęsia-, Zamenhof- und Dzika-Straße. Die Einwohner des „geschlossenen Wohnbezirks” wurden zur Arbeit in den sog. Shops[1.1] gezwungen (u. a. in der Firma von Walter Toebbens). Die Arbeit in den Werkstätten gab ihnen einen Funken Hoffnung zu überleben und nicht deportiert zu werden. Zu dieser Zeit wurden keine Pressetitel mehr herausgegeben, mit Ausnahme des „Oyf der Vakh” (jid. „Auf der Wacht“).
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In einer Atmosphäre der Angst, des Terrors und der allgemeinen Vorahnung über das nahe Ende entstand der Wille, sich gewaltsam gegen den deutschen Besatz zu widersetzen, um nicht lebendig zum Umschlagplatz gebracht zu werden. Am 28. Juli 1942 wurde die Jüdische Kampforganisation (poln. Żydowska Organizacja Bojowa) gegründet, der die Mitglieder der Jugendbewegungen Hashomer Hatzir, Dror und Akiva angehörten. Am 15. Oktober 1942 traten auch weitere Organisation bei: der Bund, Gordonia, Poale Zion-Rechte, Hanoar Hatzioni sowie die Polnische Arbeiter Partei (poln. Polska Partia Robotnicza, PPR). Die Führung der Kampforganisation setzte sich zusammen aus Mordechaj Anielewicz (Kommandant, Hashomer Hatzair), Hersz Berliński (Poale Zion-Linke), Johanan Morgenstern (Poale Zion-Rechte), Icchak Cukierman (aka Antek, Dror), Berek Sznajdmil (Bund, nach einiger Zeit durch Marek Edelman ersetzt) sowie wahrscheinlich Michał Rosenfeld (PPR). Der Mittler mit dem polnischen Untergrund war Arie Wilner (aka Jurek, Hashomer Hatzair). Ende Oktober 1942 wurde von den Zionisten und Sozialisten (mit Ausnahme der Bundisten) das Jüdische Nationalkomitee (poln. Żydowski Komitet Narodowy) gegründet, welches die politische Führung über die Kampforganisation übernahm. Zu seinen Hauptaufgaben gehörte die Vorbereitung der jüdischen Bevölkerung auf einen bewaffneten Widerstand und Kampf. Es blieb in unmittelbarem Kontakt mit dem Provisorischen Komitee für die Judenhilfe (poln. Tymczasowy Komitet Pomocy Żydom) sowie der Polnischen Heimatarmee. Der Bund ging auf eine Zusammenarbeit mit dem Komitee in Form einer gemeinsamen Kommission zur Koordinierung ein, die Juden vor dem polnischen Untergrund vertrat. Am 2. Dezember 1942 kam es zu einer weiteren Vergrößerung und Umstrukturierung der Kampforganisation. [1.2]. Sie setzte sich aus 22 Kampfeinheiten zusammen (14 mit zionistischer Ausrichtung), die aus „Soldaten” im Alter von 19-25 Jahren bestanden. Die Mitglieder der Organisation haben sich vor allem bei der Informationsbeschaffung verdient gemacht, indem sie Informationen über die Geschehnisse außerhalb der Ghetto-Mauer, in anderen Städten und Ortschaften dank ihrer Boten und Mittler zwischen dem Ghetto und der „arischen Welt“ sammelten. Die Untergrund-Strukturen des Ghettos wurden ausgebaut und verstärkt, ferner wurden finanzielle Mittel für Waffen aufgetrieben. Auch Bunker wurden gebaut.
Dank der polnischen Untergrundbewegung gelang es über den Kurier Jan Karski den Bericht des Oneg Szabat „Liquidation des jüdischen Warschaus” zu schicken. Leider haben die dortigen Behörden dem Bericht keinen Glauben geschenkt.
Eine andere konspirative Einheit im Ghetto war der Jüdische Militärverband (poln. Żydowski Związek Wojskowy, ŻZW). Ihre Mitglieder setzten sich aus Aktivisten des Verbands der Zionisten und Revisionisten sowie Beitar zusammen. Ihr Hauptquartier befand sich in der Muranowska-Straße 7. Auch die Mitglieder des Militärverbands produzierten Waffen und schmuggelten sie durch die vorher erbauten Tunnel[1.3].
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„Wir müssen bereit sein als Menschen zu sterben[1.4].
Eine weitere Deportationsaktion fand im Januar 1943 statt. Bei einem Versuch, am 18. Januar 1943 ca. 8000 Juden zu deportieren, stießen die Deutschen mit ihren litauischen und lettischen Hilfstruppen auf den Widerstand all jener, die zur Vernichtung verdammt waren. Die Juden sahen in diesem Versuch die Ankündigung der Liquidation des Ghettos. Als erstes gaben die Mitglieder der Hashomer Hatzair auf Befehl von Mordechaj Anielewicz an der Ecke der Niska- und Zamenhof-Straße einen Schuss ab. Bewaffneten Widerstand leisteten auch die Mitglieder des Dror und Gordonia. Es kam auch in anderen Teilen des Ghettos zu Kämpfen (Selbstverteidigung), bei denen 12 Deutsche und eine bis heute ungeklärte Zahl an jüdischen Kämpfern ums Leben kamen. Am gleichen Tag richtete die Jüdische Kampforganisation einen Appell an die Einwohner des Ghettos:
„Juden! Der Besatzer leitet den zweiten Schritt eurer Vernichtung ein! Geht nicht willenlos in den Tod! Verteidigt euch! Nehmt ein Beil oder ein Messer zur Hand und verbarrikadiert eure Häuser. Sollen sie euch so einnehmen! Im Kampf habt ihr die Chance der Rettung... Kämpft...“
Die meisten Einwohner leisteten passiven Widerstand und versteckten sich im Ghetto. Die Kampfhandlungen dauerten bis zu 21. Januar an. Während der vier Tage der Kampfhandlungen wurden ca. 5000 Menschen nach Treblinka deportiert[1.5].
Der erste bewaffnete Widerstand hatte großen Einfluss sowohl auf die Einwohner des Ghettos als auch auf die Deutschen, die für eine kurze Zeit die Deportationen stoppten. Die Deutschen beendeten auch die Suche nach Juden in Kellern und begaben sich nicht in das Ghetto nach der Dämmerung. Juden waren keine wehrlosen Opfer mehr. Die Kampforganisation wurde von der zivilen Bevölkerung wiedererkannt. Sie wurde zu einer Art Autorität. Unter der Zivilbevölkerung wurde die psychische Barriere der Angst vor dem Besatzer gebrochen. Auf Anordnung der Kampforganisation wurden Bunker mit Wasser- und Stromversorgung gebaut. Später wurden dort auch telefonische Leitungen verlegt, Lüftungen eingebaut und Lebensmittellager eingerichtet. Sie wurden in Kellern oder unter ihnen erbaut. Unter der Erdoberfläche entstand eine unterirdische Stadt. Die Bunker waren ein Symbol des zivilen Widerstands und spielten während des Aufstands eine wichtige Rolle. Ferner wurden Durchgänge und Korridore zwischen Häusern durch Keller und Dachböden sowie Übergänge und Tunnel zur „arischen Seite“ in der Muranowska-, Leszno-, Karmelicka- und Franciszkańska-Straße vorbereitet. Die Mitglieder der Kampforganisation und des Militärverbands begannen unabhängig voneinander Waffen zu besorgen und zu schmuggeln. Dabei halfen ihnen ihre Mitglieder auf der „arischen Seite“. Waffen wurden aber auch produziert (Granaten und sog. Molotowcocktails). Gelder erlangte die Kampforganisation u. a. durch Raubüberfälle auf reiche Einwohner des Ghettos oder gar auf die Kasse des Judenrates sowie Anschläge auf Geldtransporte, die auf dem Weg von der Bank Spółdzielczy zu den deutschen Behörden waren. Nach der Januar-Aktion beschloss die Organisation ihre Mitglieder zu kasernieren, damit sie zu jeder Zeit für den Kampf bereit wären. Die Anführer begannen eine Taktik und eine Strategie des bewaffneten Widerstands herauszuarbeiten, um den Überraschungseffekt bei der nächsten unangekündigten Deportation zu verringern und sich somit nicht wie „Mastvieh zum Schlachthof treiben zu lassen“. Ein Motto der unterirdischen Stadt war:
„Falls wir überleben, dann nur als freie Menschen. Und wenn dies nicht mehr möglich ist, dann sterben wir als freie Menschen. Im Kampf besiegen wir den Tod“[1.6]”.
Die Führung entschied sich für eine Partisanen-Taktik. Vor dem Ausbruch des Aufstands erhielt jeder Kämpfer eine eigene Waffe mit einigen Dutzend Munition sowie wahrscheinlich 2 Handgranaten und einige Molotowcocktails. Die Vorbereitungen für den bewaffneten Widerstand wurden geheim gehalten, um eine eventuelle Denunziation zu vermeiden. Aus diesem Grund verübte die Kampforganisation einige Anschläge auf Kollaborateure und eventuelle Verräter. Am 22. Februar 1943 wurden nahe des Shops der Bürstenmacher vier Gestapo-Agenten umgebracht, einen Tag später wiederum wurde der Agent Alfred Nossig erschossen. Am 26. Februar 1943 wurde das Urteil gegen Mieczysław Brzeziński, einen Offizier der jüdischen Polizei vollstreckt. Zwei Tage später starben Adam Szajna und Bubi Nebel.
Neben den organisierten Gruppen gab es im Ghetto auch sog. wilde Gruppen, die sich ebenfalls bewaffneten[1.7].
Das Ghetto wurde von den Kämpfern der Kampforganisation in drei Kampfsektoren unter der Führung von Mordechaj Anielewicz aufgeteilt. Das zentrale Ghetto befand sich unter der Führung von Izrael Kanał, das Gebiet des Shops von Toebbens und Schultz unter Icchak Cukierman und später Eliezer Geller. Der Bürstenmachen Werkstatt in der Świętojerska-Straße 34 oblag Marek Edelman.
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In der Nacht vom 18. auf den 19. April 1943 wurde das Ghetto von deutschen Miliztruppen und der Blauen Polizei umgeben. An diesem Tag bereiteten sich die Einwohner auf das Pessach-Fest vor[1.8]. Die Mitglieder der Kampforganisation ließen sich nicht überraschen, mitunter dank einer Warnung der polnischen Untergrundkämpfer. Sie beschlossen sich gegen die deutschen Besatzer zur Wehr zu setzen.
Bei Sonnenaufgang am Montag, dem 19. April 1943, schritten deutsche Einheiten (ca. 2 Tsd. Mann), die von Leutnant Ferdinand von Sammern-Frankenegg angeführt wurden, durch das Tor in der Nalewki-Straße in den menschenleeren jüdischen Wohnbezirk, um die endgültige Liquidation einzuleiten. Sie stießen dabei auf Widerstand seitens einiger Hundert schlecht bewaffneter Mitglieder der Jüdischen Kampforganisation sowie des Jüdischen Militärverbandes. Die Juden begannen den Aufstand. Die bis Mitte Mail andauernden Kämpfe hatten begonnen (vereinzelte Kämpfe gab es bis Juni). Die ersten Kämpfe, die von der Kampforganisation geführt wurden, spielten sich in der Gęsia-Straße sowie an der Kreuzung der Zamenhof- und Miła-Straße ab. Die überraschten Deutschen mussten sich aus dem Ghetto zurückziehen. Dies war zweifellos der erste Sieg der jüdischen Kämpfer.
An diesem Tag, nach einigen Stunden Pause, schritten erneut deutsche Einheiten unter der Führung von Jürgen Stroop in das Ghetto ein. Stroop blieb Befehlshaber bis zum Ende des Aufstandes. Es kam zu Kämpfen an der Kreuzung der Nalewki- und Gęsia-Straße, wo die Kämpfer der Kampforganisation Widerstand leisteten, sowie in der Nähe des Muranowski-Platzes, wo die „Soldaten“ des Militärverbandes kämpften.
Anführer des Militärverbandes war Paweł Frenkel. Der Militärverband kämpfte vor allem in der Nähe des Muranowski-Platzes. Die ersten Kampfhandlungen in dieser Gegend dauerten bis zum 22. April. Auf einer der Häuserfassaden wurden zwei Flaggen gehisst: die polnische und die jüdische[1.9] „[Nach dem Ausbruch des Aufstandes] überfiel Euphorie das ganze Haus [in der Muranowska-Straße 6]. Auf den Dächern der Häuser [auf der Ghetto-Seite der Muranowska-Straße] waren Menschen, die immer wieder mal verschwanden, unten auftauchten, um wieder nach oben zu gehen. Sie hielten in den Händen Waffen. Auf einmal sahen wir, dass gegenüber von uns, ein bisschen rechts, eine weiß-blaue und eine weiß-rote Flagge gehisst wurden“[1.10]. Die deutschen Einheiten wurden von Maschinengewehren beschossen und mit Handgranaten beworfen. Ihnen fiel es schwer, die jüdischen Kämpfer ausfindig zu machen, denn diese änderten schnell ihre Schusspositionen indem sie die Durchgänge zwischen den Häusern, Kellern und Dachböden nutzten. Erst als auf den Platz Panzer einfuhren, waren die jüdischen Kämpfer nicht mehr überlegen. Infolgedessen beschloss ein Teil von ihnen sich aus dem Ghetto zurückzuziehen. Sie gelangten auf die „arische Seite“ durch einen Tunnel unter der Muranowska-Straße 25 oder 26. Nach der Aufdeckung in Michalin kehrten sie zurück nach Warschau[1.11]. Vom 27. bis zum 29. April fand die „zweite Muranów-Schlacht“ statt. Eine Gruppe von Kämpfern des Militärverbandes kämpfte ebenfalls vom 20. bis zum 22. April am Shop der Bürstenmacher (sie waren in der Świętojerska-Straße kaserniert). Sie wurden von Chaim Łopat angeführt. Auf dem Gebiet des Shops von Toebbens-Schultz hingegen waren die Mitglieder des Militärverbandes in der Karmelicka-Straße 5 kaserniert. Sie wurden wiederum von Dawid Szulma angeführt. Andere Gruppen kämpften in der Leszno- und Nowolipie-Straße[1.12].
Sehr verbissene Kämpfe mit den Besatzern wurden vom Militärverband in den Tagen vom 20. bis zum 22. April 1943 auf dem Gelände des sog. Bürstenmacher-Shops ausgetragen. Das Gelände umfasste die Straßen Świętojerska, Wałowa, Franciszkańska und Bonifraterska. Dort agierten fünf Gruppen jüdischer Kämpfer, die von Marek Edelman angeführt wurden. Es wurde vorwiegend mit Handgranaten und Molotowcocktails gekämpft. Die Deutschen boten den Juden einen Waffenstillstand an, nachdem sie sich von der Wałowa-Straße zurückgezogen haben. Darüber hinaus versprachen sie den Arbeitern des Bürstenmacher-Shops eine sichere Überführung zu den Arbeitslagern in Trawniki und Poniatowa. Die Kämpfer lehnten das Angebot ab.
Die Kämpfer des Militärverbandes kämpften auch auf dem Gebiet des zentralen Ghettos in der Franciszkańska- und Miła-Straße sowie auf dem Gelände des Toebbens-Schultz-Shops in der Gęsia- und Zamenhof-Straße. Trotz mangelhafter Bewaffnung, einer schlechten Ausbildung und Versorgung brachten die Juden den Deutschen beachtliche Verluste ein. Vor allem die zuvor erbauten Bunker erwiesen sich als überaus hilfreich. Der heldenhafte Kampf und die Verteidigung der einzelnen Häuser und Bunker dauerte bis zu den ersten Maitagen an.
Auf Befehl von Stroop begannen die Deutschen die Bunker in die Luft zu sprengen, um den Kämpfern ein schnelles Durchkommen sowie ihre Verbindungslinien zu unterbinden. Zeitgleich brannten sie ein Haus nach dem anderen ab. Dabei vergasten sie die Keller, um die Einwohner herauszujagen. Oftmals starben diese aber durch das Gas oder in den Flammen. Über dem Ghetto stiegen Rauchwolken auf. Die gefangenen Juden wurden an Ort und Stelle ermordet (auf diese Weise kamen ca. 7000 Menschen um) oder in das Vernichtungslager Treblinka (auch ca. 7000 Menschen) oder andere Lager deportiert (ca. 36 Tsd. Menschen). Nur die wenigsten Einwohner des Warschauer Ghettos überlebten den Krieg. In seinem Bericht, den Stroop vom 20. April bis zum 16. Mai 1943 verfasste, rühmt er sich für die Entdeckung und Vernichtung von 631 Bunkern. Diese Daten können aber überhöht sein.
Die Kämpfer verteidigten sich mit allen Mitteln auf den höheren Stockwerken und versteckten sich in Bunkern, die sie besonders vor den aufkommenden deutschen Truppen schützten. Sie stellten aber auch Fallen für den Feind auf, wenngleich sie nicht imstande waren, diesen ungleichen Kampf für sich zu entscheiden. Gegen die überwältigende Stärke des Gegners, der hervorragend bewaffnet war, hatten sie keine Chancen. Sie waren sich aber dessen von Anfang an bewusst. Eine Woche nach Beginn des Aufstandes richtete die Kampforganisation einen Appell an die Kämpfer aus: „Die Zahl unserer Verluste (...) ist enorm. Unsere letzten Tage kommen näher. Doch solange wir Waffen in den Händen halten, solange werden wir kämpfen und Widerstand leisten“. Ziel der heldenhaften Aufständischen war Vergeltung, dem Feind so viele Verluste wie nur möglich einzubringen. Viele der Kämpfer zogen es vor, zu sterben, als in die Hände der Deutschen zu fallen. Zu ihnen gehörte auch Mordechaj Anielewicz. Am 8. Mai, als die Deutschen erneut angriffen, beging Anielewicz, der sich im Bunker in der Miła-Straße 18, wo sich der Generalstab der Aufständischen befand, zusammen mit vielen anderen Selbstmord. Ein Teil der Personen im Bunker starb sofort durch das Gas, welches die Deutschen in die Bunker einführten. Nur den wenigsten gelang es, zu fliehen. Die Worte von Anielewicz, die er am 23. April 1943 an Icchak Cukierman richtete, gingen in Erfüllung: „Das, was wir erlebt haben, übersteigt unsere mutigsten Träume. Die Deutschen sind zweimal aus dem Ghetto geflohen...(...) Wisse, dass der Revolver keinen Wert hat. Wir haben ihn fast nicht benutzt. Wir brauchen Handgranaten, Maschinengewehre und Sprengstoff (...) Nur die wenigsten überleben. Der Rest wird früher oder später umgebracht. Das Schicksal ist besiegelt. (...) Mein Lebenstraum ist in Erfüllung gegangen. Ich habe überlebt und die jüdische Selbstverteidigung im Warschauer Ghetto in ihrer ganzen Herrlichkeit und Größe gesehen“[1.13].
Derweilen brannte das Ghetto weiter nieder, ganz zur Belustigung des Gruppenführers der SS Jürgen Stroop. Bereits am 16. Mai 1943 meldete er: „Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschau besteht nicht mehr“. An diesem Tag wurde auf seinen Befehl hin um 20:15 Uhr die Große Synagoge in der Tłomackie-Straße in die Luft gesprengt. Dies war der letzte Akt der jüdischen Tragödie. Stroop erzählte später seinen Mitgefangenen Kazimierz Moczarski im Gefängnis in der Rakowiecka-Straße:
„Als schönen Schlussakkord der Großaktion hatte ich die Sprengung der Großen Synagoge in der Tlomackie-Straße angeordnet. Die Vorbereitungen nahmen zehn Tage in Anspruch. (…) Die Synagoge war sehr solide gebaut. Um sie mit einem Schlag in die Luft zu sprengen, musste eine Reihe umfangreicher Pionier- und Elektrikarbeiten durchgeführt werden. War das ein herrlicher Anblick! (…) Ein fantastitsches Panorama für jeden Maler und Theaterregisseur. (…) Der Kommandeur der Pioniereinheit , der für die ordnungsgemäße verantwortlich war, ließ mir durch Max Jesuiter den eletrischen Apparat übergeben, mit dessen Hilfe die gleichzeitige Detonation aller Sprengladungen in den Mauern der Synagoge ausgelöst werden konnte. (…) Ich zögerte den spannenden Augenblick noch etwas hinaus. Schließlich rief ich: Heil Hitler! und drückte auf dem Knopf. Die ungeheure Explosion riss die Flammen bis zu den Wolken. Ein durchdringender Knall folgte, die Farben waren geradezu märchenhaft. Eine unvergessliche Allegorie des Triumphes über das Judentum! Das Warschauer Ghetto hatte aufgehört zu existieren.“[1.14]
Nur wenige Kämpfer des Militärverbandes haben den Aufstand überlebt. Ein Teil von ihnen konnte durch die Kanalisation aus dem Ghetto flüchten. In der Gruppe, die am 10. Mai durch einen Kanaldeckel in der Prosta stiegen , waren u. a. Marek Edelman, Cywia Lubetkin, Kazik Ratajzer (später Symcha Rotem), Janek Bilak sowie die Geschwister Błones. Sie gelangten mit einem LKW aus Warschau in den Wald bei Łomianki, wo sie zu einer Gruppe Kämpfer dazugestoßen sind, die das Ghetto bereits am 29. April verlassen haben. Die meisten von ihnen kamen später in den Wäldern oder beim Warschauer Aufstand ums Leben.
Der Aufstand im Ghetto war ein verzweifelter Versuch, einen würdigen Tod zu erleiden und dabei Vergeltung an den Deutschen zu üben, der von einigen Hundert jüdischen Kämpfern unternommen wurde (sie stellten ca. 3000 mobilisierten Einheiten die Stirn). Die Kämpfer waren Mitglieder der Jüdischen Kampforganisation und des Jüdischen Militärverbandes und wurden nur in geringem Maße von der polnischen Heimatarmee und der Nationalgarde unterstützt. Noch vor dem Appell des polnischen Präsidenten im Exil, Władysław Sikorski, der in einer Sendung im BBC seine Landsmänner dazu aufrief, den jüdischen Kämpfern zu helfen, führten die Polen einige Dutzend Aktionen in der Nähe des Ghettos durch, womit sie Kämpfe gegen die Deutschen initiierten und sie somit desorganisierten. Die erste Aktion fand am ersten Tag des Aufstandes statt. Am Abend unternahm eine Gruppe der Heimatarmee unter der Führung von Hauptmann Józef Pszenny (aka „Chwacki“) einen misslungenen Versuch, die Mauer des Ghettos in der Bonifraterska-Straße durchzubrechen. Stroop schrieb in seinem Bericht, dass seine Kräfte „(...) ununterbrochen von außerhalb, von der arischen Seite beschossen wurden. (...) Beim ersten Eindringen in das Ghetto gelang es den Juden und polnischen Banditen dank eines vorbereiteten und bewaffneten Überfalls unsere Einheiten mit allen Panzern und gepanzerten Wagen zurückzudrängen.“ Die polnische Bevölkerung in der „arischen Zone“ war in der Zeit, während sich die Tragödie hinter den Mauern des Ghettos abspielte, hilflos. Es fehlte nicht an Anzeichen von Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit, aber auch an lebensgefährlichen Versuchen, zu helfen. Beispielsweise nahmen polnische Kanalreiniger an der Flucht von mindestens einigen Dutzend Juden teil, darunter Marek Edelman, einem der Anführer des Aufstandes, der zusammen mit anderen Kämpfern der Jüdischen Kampforganisation am 10. Mai mit Unterstützung der Nationalgarde aus dem Ghetto flüchtete.
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Szmul Zygielbojm (aka „Artur“), Vertreter des Bundes im Nationalrat der Republik Polen in London, beging am 12. Mai 1943 Selbstmord, als er über die Vernichtung des Warschauer Ghettos erfuhr. Es war ein Protest gegen die Gleichgültigkeit des Westens auf die Verbrechen der Nazis an den Juden.
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Nach dem Ende der Kämpfe wurde der jüdische Wohnbezirk nach und nach methodisch niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht. All jene, die die Kämpfe, die Massenexekutionen von deutschen Soldaten sowie die Brände überlebt haben, wurden hauptsächlich in das Vernichtungslager Treblinka II deportiert. In den Ruinen, Schutzräumen und Kellern konnten jedoch vereinzelte Juden überleben, die sich daraufhin bis zum Ende der deutschen Besatzung in Warschau versteckten. Sie wurden als „Robinsons“ des Ghettos bezeichnet. Das Gelände des Ghettos wurde zu einer Wüste voller Ruinen[1.15].
Martyna Rusiniak-Karwat
- [1.1] Als Shops bezeichnete man deutsche kleine Fabriken oder Werkstätte, die im Ghetto arbeiteten.
- [1.2] A. Grupińska A., Odczytanie listy. Opowieści o powstańcach żydowskich, Warszawa 2003; Prekerowa T., Konspiracyjna Rada Pomocy Żydom w Warszawie 1942-1945, Warszawa 1982, S. 35-37
- [1.3] Mehr zum Jüdischen Militärverband u. a. bei: Grabski A., Wójcicki M., Żydowski Związek Wojskowy – historia przywrócona, Warszawa 2008
- [1.4] poln. „Musimy być gotowi umrzeć jako ludzkie istoty” - Manifest der Jüdischen Kampforganisation (ŻOB), Warschau, Herbst 1942 r.
- [1.5] T. Prekerowa, Zarys dziejów Żydów w Polsce w latach 1939-1949, Warszawa 1992, S. 131.
- [1.6] „Słowo Żydowskie/Dos JidiszeWort”, Nr. 7-8 (293-294) 4-18 IV 2003, S. 4.
- [1.7] T. Prekerowa, Zarys dziejów Żydów w Polsce w latach 1939-1949, Warszawa 1992, S. 130.
- [1.8] „Während dieser Nacht vor dem Ausbruch des Aufstandes am 19. April saßen wir bis 2:00 Uhr morgens an unseren ärmlichen Mahlzeiten. Als wir uns so beraten und Pläne geschmiedet haben, kam ein Freund hinein, dessen blasses Gesicht davon zeugte, dass etwas passiert war. Er kam zum Tisch und sagte ruhig: gerade kam die Nachricht von der arischen Seite rein, dass das Ghetto heute noch umzingelt wird und die Deutschen ab 6:00 Uhr am Morgen den Angriff starten. Obwohl wir uns dafür vorbereitet und ständig auf diesen Augenblick gewartet haben, wurden wir ganz blass. - Lubetkin C., Zagłada i powstanie, Warszawa 1999, „Słowo Żydowskie/Dos JidiszeWort”, Nr. 7-8 (293-294), 4-18 IV 2003, S. 8.
- [1.9] Wahrscheinlich wurden die Flaggen am Hauptquartier des Militärverbands in der Muranowska-Straße 7 oder an der befestigten Fassade des Hauses an der Ecke des Muranowski-Platzes gehisst (Nalewki-Straße 42/Muranowski-Platz 15).
- [1.10] Helman Y., The fate of the last fighters of the Jewish Military League in Warsaw, „Dapim. Studies on the Shoah” 1991, Zitat nach: A. Grabski, M. Wójcicki, Żydowski Związek Wojskowy – historia przywrócona, Warszawa 2008, S. 6
- [1.11] D. Libionka, L. Weinbaum, Bohaterowie, hochsztaplerzy, opisywacze. Wokół Żydowskiego Związku Wojskowego, Warszawa 2011, S. 395-512.
- [1.12] Grabski A., Wójcicki M., Żydowski Związek Wojskowy – historia przywrócona, Warszawa 2008, S. 61-67.
- [1.13] List komendanta Mordechaja Anielewicza do swego zastępcy po stronie aryjskiej Icchaka Cukiermana, „Słowo Żydowskie/Dos JidiszeWort”, Nr. 7-8 (293-294), 4-18 IV 2003, S. 39.
- [1.14] Moczarski K., Gespräche mit dem Henker. Das Leben des SS-Gruppenführers und Generalleutnants der Polizei Jürgen Stroop, aufgezeichnet im Mokotów-Gefängnis zu Warschau, Berlin 2008.
- [1.15] Informationen über den Aufstand im Warschauer Ghetto auf Grundlage von: Engelking B., Leociak J., Getto warszawskie. Przewodnik po nieistniejącym mieście, Warszawa 2001; Grupińska A., Ciągle po kole. Rozmowy z żołnierzami getta warszawskiego, Warszawa 2000; Prekerowa T., Zarys dziejów Żydów w Polsce w latach 1939-1945, Warszawa 1992.